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Den Rücken beugen und biegen in der Tanzmoderne

Weiterführender Text zur Ausstellung "Arch of Hysteria. Zwischen Wahnsinn und Ekstase"

(Langfassung des Aufsatzes von Andrea Amort)

 

Den Rücken beugen und biegen in der Tanzmoderne

 

Dem Fotografen Rudolf Jobst gelang es 1908, Grete Wiesenthals aufkeimende eigene, so natürliche wie aus dem Moment geborene moderne Tanzsprache so treffend festzuhalten, dass seine Abzüge noch heute in keiner Ausstellung über die Tanzmoderne fehlen dürfen. Was scheinbar leicht und spontan, überbordend wirkt, wurde Grundlage für die nachfolgend ausgefeilte Balance- und Schwebetechnik der Wiener Tänzerin Wiesenthal (1885–1970) sowie ihr spezifisches Schwung- und Drehsystem, das heute noch erlernbar ist.

Wohl gilt die Amerikanerin Isadora Duncan (1877–1927) als bahnbrechende Gallionsfigur für den modernen Tanz, ihr kontinentaleuropäisches Debüt fand 1902 in der Wiener Secession statt. Wiesenthal aber, die von Duncan gehört, sie aber nicht gesehen hatte, nimmt die neue Tatsache der freischaffenden feministischen Künstlerin als Inspiration und schafft ihre unverwechselbare Tanzweise aus eigener Kritik am klassischen Ballett und ihrer Hinwendung zur größtmöglichen Freiheit des Körpers. 1934 schreibt sie, dass Duncan sich auf die „antike Griechenwelt“ beziehe, sie selbst aber auf die Musik u.a. von Beethoven und Strauß, in der sie das „Dionysisch-Ekstatische und Himmlisch-Unbeschwerte“ finde. Sie nutzt die Möglichkeiten des unendlich wirkenden Räumlichen in alle Richtungen und sprengt damit die klassische Ballett-Tanz-Form, die sie ursprünglich gelernt hatte. Ihr Umgang mit der Wirbelsäule, der Hüftverschiebung, dem gestreckten Spielbein, dem gebeugten Standbein erzeugt ein berauschtes Bild unbekümmerter Freiheit.

Das Biegen und Beugen und Destabilisieren des Oberkörpers in unterschiedlichen Schieflagen und in einer Weise, dem der Blick der Tanzenden schwer folgen kann, gehört in der Tanzmoderne zum Bewegungsvokabular. Ob bei Mary Wigman in Dresden, bei Gertrud Bodenwieser in Wien, in der Schule Hellerau-Laxenburg bei Wien oder bei Rosalia Chladek, Anita Berber und Tilly Losch: Zwischen Ausdrucksmittel und effektvoller, ja spektakulärer Formgebung wird es vielfältig genutzt und weist auf die Beherrschbarkeit alles Räumlichen hin, das von der Bewegung definiert wird. Der Bewegungsanalytiker Rudolf von Laban erkennt die Kinesphäre, den Raum, den Bewegung nutzt und selbst erzeugt, also auch der Raum, der hinter der Sichtachse liegt, als Grundelement von Bewegungseinsatz an. Im künstlerischen Tanz folgt der Kopf meist der Linie der Wirbelsäule und knickt nicht ab wie in den Darstellungen von Charcots Hysterie-Studien.

Die Tanz-Kategorien in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind äußerst vielfältig. In den unterschiedlichsten Gesellschaftstänzen wird zumeist die Dame vom Partner oder der Partnerin rückgebeugt bzw. gebeugt und gehalten. Von den vielgestaltigen, teils akrobatischen, teils dramatischen Kleinkunst-Tänzen, die als internationale Show-Acts mit Bezeichnungen wie Exzentrische Tänze, Mondäne Tänze u.ä. beworben und von Künstleragenturen für kleine und große Bühnen vermittelt werden, existieren Fotos von solistischen Darbietungen, Duetten und Gruppen, auf denen der gebeugte Rücken als Ende einer Bewegungsphrase gerne abgelichtet wird. Gut möglich, dass auch das Unterhaltungsgenre des Varietés bereits vor 1900 die von Duncan, Wiesenthal, Wigman und anderen letztlich künstlerisch formulierte und durchgesetzte Moderne durch physische Ansätze vorangetrieben hatte.

Andrea Amort

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